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Klaus Lehmann: "Raum für ethische Reflexionen"
H-BRS: Sie sind Geschäftsführer des Zentrums für Ethik und Verantwortung (ZEV). Meinen die Begriffe Ethik und Verantwortung nicht dasselbe? Verantwortliches Handeln ist ohne eine ethische Grundhaltung nicht denkbar, oder?
Klaus Lehmann: Natürlich gehört beides zusammen. Dennoch muss man differenzieren: In der Ethik beschäftigen wir uns nachdenklich und reflektiert mit der ernsten Frage nach dem guten und richtigen Handeln. Die Verantwortung fragt nach den Folgen des Handelns, sie zieht das das Anwendungsorientierte in die Überlegungen hinein. Insofern geht es uns im Zentrum für Ethik und Verantwortung – passend für eine Hochschule für Angewandte Wissenschaften – darum, ethischen Reflexionen entlang von ganz anwendungsnahen Belangen einen Raum zu bieten.
H-BRS: Sie sind Chemiker. Wie haben Sie ein Bewusstsein für ethische Fragestellungen entwickelt?
Lehmann: Schon als Student war mir der Gedanke nah, dass die Eingriffstiefe der Naturwissenschaften enorm ist - auch mit Blick auf ökologische und soziale Folgen. Deshalb konnte es für mich in einem Naturwissenschaftsstudium nicht nur darum gehen, objektives Wissen zu lernen und zu erarbeiten. Dieses Wissen ist ja unmittelbar anwendungsreif. Daraus ergibt sich immer auch die Frage nach den Folgen des eigenen Handelns. Das hatte in meinem eigenen Studium aber keinen Ort. Diese Verknüpfung zwischen naturwissenschaftlichem Wissen und gesellschaftlichen Fragen war nicht vorgesehen. Ich habe das sehr vermisst und habe mich darum entschlossen, mein Studium fachübergreifend zu erweitern.
Vom Fortschrittsgedanken zur Nachhaltigkeit
H-BRS: Wie ist es heute? Sind die Naturwissenschaften diesbezüglich inzwischen offener?
Lehmann: Auf jeden Fall. In den letzten 30 Jahren ist in der Chemie als Wissenschaft und Industrie viel in Bewegung geraten. Das hängt sicherlich mit einem Generationswechsel zusammen, aber auch mit dem Druck und der Einsicht in Veränderungsprozesse und den Notwendigkeiten einer öko-sozialen Transformation. Neu sind diese Fragestellungen aber nicht, im Grunde gab es sie schon im 19. Jahrhundert im Zusammenhang mit der Industrialisierung und ihren Auswirkungen. Damals gab es nicht nur die Arbeiterbewegung, sondern auch eine von bürgerlichen Eliten - die hatten die Zeit dafür - getragene Umweltbewegung. Die Auseinandersetzung mit sozialen und ökologischen Themen im Zusammenhang mit den Naturwissenschaften ist dann im 20. Jahrhundert durch die zwei Weltkriege in den Hintergrund geraten, und spielte erst ab den 1960er Jahren eine neue Rolle.
H-BRS: Weil sie nicht mit der Fortschrittsgläubigkeit dieser Zeit zusammenpasste?
Lehmann: Der Fortschrittsgedanke war in der Tat sehr dominant. Er basierte im naturwissenschaftlich-technischen Kontext des beginnenden 20. Jahrhunderts grob gesagt auf folgendem Gedankenkonstrukt: Naturwissenschaften entwickeln objektives Naturwissen und setzen auf dieser Grundlage qua Vernunft Prozesse in Gang, die zu vernünftigen, sprich fortschrittlichen, sprich guten Zuständen führen. Dadurch bekam der Fortschrittsgedanke im Umfeld der Chemie etwas Naturgesetzliches und wurde entsozialisiert. Der Fokus lag klar auf dem naturwissenschaftlich-technisch Machbaren. Wer ökologische oder soziale Folgen thematisierte, galt eher als Fortschrittsfeind. Doch irgendwann, Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre, verlor der Fortschrittsbegriff an Wirkmächtigkeit. In die entstehende Lücke hinein wuchs unter anderem der Nachhaltigkeitsdiskurs hinein, der viel rationaler, dialogischer und demokratischer die Suche nach besseren Zuständen organisiert. Auf dieser Ebene hat sich einiges zum Positiven entwickelt.
Keine Meinungsstudiengänge
H-BRS: Die Hochschule Bonn-Rhein-Sieg ist ein Kind der 90er Jahre. War sie von Anfang an vom Nachhaltigkeitsdiskurs beeinflusst?
Lehmann: Das kann ich nicht beantworten. Die 90er Jahre waren ja zum Beispiel nach der UN-Konferenz in Rio stark beeinflusst von einer Aufbruchstimmung. Das wirkte sich vermutlich auch positiv auf die Gründung unserer Hochschule aus. Auch in den Angewandten Naturwissenschaften gab es Protagonisten, die den Nachhaltigkeitsgedanken stärker berücksichtigen wollten. Sie sind in der Vergangenheit immer auf zwei Bedenken gestoßen. Erstens: Wenn man in den Studiengängen diese Reflexionsebene einbezieht, dann kostet das Zeit und geht zu Lasten der eigentlichen Fachinhalte. Zweitens: Man setzt sich einem Ideologieverdacht aus. Ich teilte diese Ansicht nicht. Wir wollen ja keine Meinungsstudiengänge, sondern eine wissenschaftlich geprägte Auseinandersetzung mit Themen wie Nachhaltigkeit. Diese führt oft zu einer größeren Motivation für das eigene Fachstudium. Auch da hat sich einiges geändert – die Gesellschaft der Deutschen Chemiker (GDCH) forderte zum Beispiel schon 2002 eine diesbezügliche Erweiterung der Studiengänge. Und Arbeitgeber zeigen sich angesichts der anstehenden Veränderungsprozesse Absolventen gegenüber aufgeschlossen, die sich der globalen Probleme bewusst sind, diese abwägend und vielperspektivisch betrachten können und ein hohes Verantwortungsbewusstsein mitbringen.
H-BRS: Sie bekommen positive Resonanz aus der Wirtschaft?
Lehmann: Ja, da gab es gerade in den vergangenen Jahren eine ungeheure Dynamik. Viele Unternehmen beziehen das Wissen um die Notwendigkeit von Veränderungen in die strategische Aufstellung von Unternehmen ein. Sie wollen ihren Beitrag zum Beispiel zur Bewältigung des Klimawandels leisten, sicherlich auch aus der Erkenntnis heraus, dass zukunftsfähige Produkte und Prozesse den Erfolg am Markt positiv beeinflussen werden. Die Produkte und Prozesse der Zukunft müssen anders aussehen als die heutigen. Da ist viel Arbeit. Also holen sie verstärkt junge Leute ins Boot, die ein dafür offenes Mindset mitbringen. Besonders erfolgreich ist in diesem Zusammenhang unser Studium Verantwortung „Blaue Schiene“ in den Angewandten Naturwissenschaften. Bei diesem freiwilligen Begleitstudium setzen sich Studierende fachbezogen-fachübergreifend vertieft beispielsweise mit Nachhaltigkeitsaspekten auseinander. Auch in den Studiengängen Maschinenbau und Elektrotechnik ist die „Blaue Schiene“ fester Bestandteil.
Studium Verantwortung als Markenzeichen
H-BRS: Was haben sie als neuer Geschäftsführer des ZEV vor?
Lehmann: Wir haben im ZEV zwei Standbeine. Das eine ist das Forum Verantwortung. Wir wollen dieses Dialogformat, mit dem wir die interessierte Öffentlichkeit, aber auch andere Wissenschaftler adressieren, fortführen und weiterentwickeln. Das zweite Standbein ist das Studium Verantwortung. Das wollen wir ausbauen. Wir möchten Studierenden verstärkt Angebote machen, sich mit den großen gesellschaftlichen Herausforderungen bewusst und selbstbestimmt auseinanderzusetzen. Konkrete Anwendungsnähe ist uns dabei wichtig. Wir wollen hierfür auch ein ZEV-Modul entwickeln. Schön wäre es, wenn dies in den Fachbereichen curricular anerkannt werden kann. Ich habe den Eindruck, dass das Interesse groß ist. Studierende, die sich noch weitergehender mit ethischen Fragen beschäftigen wollen, sollen zudem ein Begleitangebot in Form eines selbstbestimmten Zertifikatstudiums bekommen. Auf diese Weise können wir das reflektierte Nachdenken über die gesellschaftliche Gestaltung von Zukunft mit der Fachausbildung verzahnen und eine multiperspektivische Ausbildung stärker zum Teil des Hochschulprofils machen.
H-BRS: Dabei setzen Sie durchweg auf Freiwilligkeit, oder?
Lehmann: Ja, das ist mir ganz wichtig. Das Studium Verantwortung macht Angebote, es soll ja Spaß machen und zum eigenen Fachstudium motivieren. Dafür braucht es die Freiwilligkeit. Wir haben zum Beispiel gute Erfahrungen mit dem fachübergreifenden Modul „CO2 – kleines Molekül, große Verantwortung“ gemacht. Es nahmen regelmäßig 70 bis 80 Studierende teil, etwa ein Drittel davon außerhalb des Curriculums. Das ZEV möchte möglichst anwendungsorientiert Anstöße geben und gemeinsam mit den Studierenden Wege abwägen, die uns aus den Dilemmata der großen Herausforderungen führen können: Wie produzieren wir welche Art von Wissen? Wie gehen wir mit dem Klimawandel um? Wie sieht die Zukunft der Demokratie aus? Wie erkennen und gestalten wir die Folgen der Digitalisierung? Wie ermöglichen wir Teilhabe und wie wollen wir teilen? An diesen Fragen entscheidet sich, wie wir in Zukunft Mensch sein wollen.
Das Interview führte Dominik Pieper
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