Communications and Marketing
Interview: Digitale Lebenswirklichkeit und Werte
Welche Assoziationen löst das Titelbild dieses Jahresberichts bei Ihnen aus?
Prof. Dr. Hartmut Ihne: Der romantische Mensch von Caspar David Friedrich hat sich verändert. Ich sehe etwas Vertrautes, gleichzeitig wirkt der metallene Kopf fremd. Er weckt Zweifel, ein eigenartiges Hybridwesen. Ich weiß nicht, ob diese Kombination auf Dauer trägt und ob die alte Werte-bezogenheit, die im Bild enthalten ist, in die neue Zeit mitgenommen werden kann.
Prof. Ulrich Kelber: Wird der Mensch ersetzt? Sehe ich Neues in altem Gewand oder umgekehrt? Für mich enthält das Bild jedenfalls nichts Disruptives, vielmehr bleibt Altes erhalten und wird mit etwas Neuem verschmolzen.
Ihne: Mir gefällt besonders gut, dass es hier um den Kopf geht: Was sich ändert, hat mit mentalen Eigenschaften und der Konstruktion von Wirklichkeit zu tun. In der virtuellen Realität spielt sich alles im Kopf ab: Wir reisen in Zeit und Raum, ohne uns vom Fleck zu bewegen – formt das unsere Wirklichkeit neu?
Kelber: In vielen Berufen wird virtuelle Realität (VR) künftig noch stärker als ergänzende Technik genutzt werden. Auch bei Freizeitaktivitäten werden wir vermehrt diese Form der Erweiterung unserer Wahrnehmung antreffen, beispielsweise, wenn Städte virtuelle Rundgänge anbieten. Hier und vor allem im Spielbereich wird der Einsatz von VR aber auch für steigendes Suchtpotenzial sorgen. Ein „Wegbeamen“ aus der eigenen Wirklichkeit wird durch VR in ganz anderer Form möglich. Dieser Problematik, die weit über technische Fragestellungen hinausgeht, wird man sich widmen müssen.
Ihne: Wir leben bereits in einer veränderten Wirklichkeit, denn die virtuelle Realität ist Teil unserer Realität. Diesen neuen Lebensbereich, in dem wir uns bewegen – soziale Netzwerke, „intelligente“ Informations- und Wissens-welten –, müssen wir genau betrachten. Viele eingeübte Kommunikationsformen der Gesellschaft verlagern sich in den virtuellen Raum. Wir müssen begreifen, dass es sich um eine Erweiterung unserer Wirklichkeit handelt, in der alles auch manipulierbar ist, wie es das Beispiel der Fake News zeigt. Unsere „normale Wirklichkeit“ ist ja selbst immer schon eine mentale Konstruktion. Jetzt besteht die Gefahr, dass man nicht mehr genau weiß, was alltagswirklich und digitalwirklich ist.
Kelber: Dazu gibt es ein Beispiel. Es liegt etwas zurück, aber verdeutlicht dieses Problem: Nutzer des virtuellen Videospiels Second Life verlangten, dass bestimmte Service-angebote der Städte oder Banken aus dem Spiel in die Realität übertragen werden! Oder – anderes Beispiel – die für mich verständliche Vehemenz der jungen Menschen bei den Urheberrechts- und Uploadfilter-Protesten veranschaulicht, dass für sie die digitale Welt ihre Lebenswirklichkeit ist.
Wie groß ist das Problem der Fake News in einer immer umfassender digitalisierten Welt?
Kelber: Fake News hat es schon immer gegeben und der Umgang damit war immer schwierig, aber Umfang und Geschwindigkeit verlangen Aufmerksamkeit. Kann ich die Verbreitung stoppen? Ist es sinnvoll, bei Fehldarstellungen in sozialen Netzwerken eine Richtigstellung zu verlangen, die jedem Rezipienten der vorigen Falschmeldung eingeblendet wird? Oder werte ich damit die Fehldarstellung auf? Für ähnlich gefährlich wie Fake News halte ich übrigens Ansätze wie „Dark Ads“. Hierbei werden unterschiedliche Aspekte gegenüber unterschiedlichen Empfängergruppen unterschiedlich betont oder dargestellt, ohne dass diese Unterschiede transparent werden, im Extremfall wird sogar zwei Gruppen das Gegenteil versprochen. Algorithmen werden so programmiert, dass sie sensationelle Meldungen besonders befördern. Im Ergebnis müssen Menschen lernen, dass die digitale Welt neue Verhaltensweisen erfordert. Leider läuft die digitale Veränderung viel schneller als unsere Anpassung daran.
Ihne: Fake News sind deshalb so schwer zu identifizieren, weil man immer nur im Nachhinein feststellen kann, wo manipuliert wurde. Bei Deep Fakes können das nur noch Spezialisten. Wir müssen bei den Produzenten ethische Wahrhaftigkeitsstandards implementieren und beim Rezipienten eine Kompetenz für die Qualität der Informationen und deren Quellen. Das ist eine schwierige gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
Sie sagen, Menschen müssen neue Verhaltensweisen erlernen. Was braucht es, um digital kompetent zu sein?
Ihne: Um die Hintergrundprozesse und Zusammenhänge des Internets zu verstehen, bedarf es eines neuen Schulfachs „Digitale Geografie“. Bereits Schulkinder sollten lernen, wie das digitale System aufgebaut ist, funktioniert, wie es Wirklichkeiten konstruiert und wo sie selbst im System stehen. Ein digital mündiger Bürger muss die Funktionsweisen von Internet, Algorithmen, sozialen Medien und so weiter verstehen, um Chancen und Risiken zu erkennen.
Kelber: Vielleicht kein eigenes Schulfach, aber die Integration in den Lehrstoff aller Fächer. Viele grundsätzliche Fragen, die mit der Digitalisierung einhergehen, könnten beispielsweise in das Fach Ethik einfließen. Wichtig in diesem Zusammenhang wäre frei verfügbares Lehrmaterial, das unabhängig von wirtschaftlichen Interessen der Verlage staatlich finanziert wird. Dieses sollte sowohl im Unterricht als auch zum Selbstlernen genutzt werden können.
An der H-BRS befasst sich das Zentrum für Ethik und Verantwortung mit Digitalisierung und künstlicher Intelligenz. Wie lauten die entscheidenden gesellschaftlichen und forschungsrelevanten Fragen?
Ihne: Mit dem Zentrum für Ethik und Verantwortung versucht die Hochschule, einen gesellschaftlichen Beitrag zu leisten. Wir fragen zum Beispiel, ob wir als Gesellschaft alle Möglichkeiten der Digitalisierung zulassen oder ob wir Grenzen setzen sollten. Das verstehe ich als Ethik des Digitalen. Eine andere Frage ist, wie sich der Einzelne in den digitalen Räumen verhalten sollte. Dies ist die Ethik im Digitalen. Ethische Fragen werden in der Informatik zwar immer häufiger gestellt, aber noch hat das Fach ein Wahrnehmungsproblem: Die Informatik erkennt nicht ausreichend ihre Verantwortung: nämlich, dass sie eine Leitwissenschaft ist, die zu neuen, radikalen Leittechnologien in der Gesellschaft führt. Hier sehe ich ein Desiderat: Wir müssen dringend die Konsequenzen der Digitalisierung für die Gesellschaft – auch vorausschauend – besser verstehen lernen.
Kelber: Wissenschaft hat als eine Aufgabe, Entwicklungen zu einem frühen Zeitpunkt zu entdecken und die richtigen Fragen zu stellen. In der Forschung sollten sich Datenanalysten intensiv mit den Themen Ethik und Qualität von Datenprozessen auseinandersetzen. Wir haben es mit Technologien zu tun, bei denen wir oft nicht wissen, wie die von ihnen produzierten Ergebnisse zustande gekommen sind. Die Forschung muss hier noch einiges liefern, damit selbstlernende Systeme transparent und berechenbar werden und so die Überprüfbarkeit von Entscheidungen erlauben. Zudem brauchen wir eine ethische Debatte: Wie wollen wir Algorithmen kontrollieren? Wo verlangen wir eine Zulassung und wo eine Offenlegung? Wie kann eine Prüfung überhaupt stattfinden und wann ist das notwendig?
Wo können der Digitalisierung Grenzen gesetzt werden?
Ihne: Eine Grenze betrifft etwa die Anonymität im Netz. Um das, was wir auf der Basis von Menschenrechten und Demokratie etabliert haben, zu erhalten, brauchen wir eine Übertragung unserer aufgeklärten Werte- und Rechtsvorstellungen in die digitale Sphäre. Demokratie setzt unter anderem einen offenen Diskurs über unsere gemeinsamen Angelegenheiten voraus. Das verträgt sich aber nicht mit anonymem Agieren im Netz. Demokratien vertragen dieses Anonyme nicht, in Nicht-Demokratien ist das allerdings etwas Anderes.
Kelber: Da widerspreche ich. Demokratie verträgt Anonymität, braucht sie sogar. So wie es bisher möglich ist, anonyme Briefe zu schreiben oder anonym anzurufen, muss das auch im Netz möglich sein. Dabei bleibt es mir als Empfänger oder Adressat überlassen, ob ich mich mit diesen Äußerungen befasse oder nicht. Ich erinnere aber daran, wie wichtig der anonyme zivilgesellschaftliche Widerstand gegen die rechtsextremen Ausschreitungen in Freital waren.
Ihne: Der Unterschied zum Brief ist allerdings, dass ich heute mit einem Klick Millionen von Menschen erreichen und aufhetzen kann.
Kelber: Ja, Multiplikator-Effekte existieren und sorgen dafür, dass man Dinge anders hinterfragen muss. Social-Media-Seiten sollten erweiterte Einstellungen anbieten. Zum Beispiel: Verifizierte Accounts werden wichtiger, oder ich möchte Hinweise von Organisationen wie Transparency oder Netzwerkrecherche berücksichtigt sehen. Damit halten wir Menschen noch nicht davon ab, anonymen Stimmen zu glauben, aber es sind wichtige Weichenstellungen. Wir brauchen digitale Assistenzangebote zur Bewertung von Inhalten, auf die Menschen sich verlassen können. Ich möchte, dass Anbieter sich dabei gegenseitig übertreffen, eine gute, aber eben nicht bevormundende Technologie zu entwickeln. In Deutschland stehen wir dabei erst am Anfang.
Die Glaubwürdigkeit von Informationen ist das eine Problem, das andere der vielfach sorglose Umgang mit persönlichen Daten. Warum fehlt vielen Menschen das Bewusstsein dafür, wie wertvoll ihre Daten sind?
Ihne: Das hängt auch mit dem zu technischen Sprachgebrauch zusammen: Es geht ja nicht bloß um Daten, sondern eigentlich um unsere Identität. Es gibt unendlich viele Daten, die aber besonders relevant werden, wenn sie mit Persönlichkeitsmustern verbunden werden.
Kelber: Datenschutz schützt nicht Daten, sondern Menschen. Die meisten Menschen können sich nicht vorstellen, warum dieser Schutz so wichtig ist. Mithilfe der Daten wird versucht, die Haltung des Einzelnen zu erkennen. So gibt die Geschwindigkeit beim Tippen einen Hinweis auf die Gefühlslage. „Die Gedanken sind frei“ – das gilt nicht mehr. Auf Gedanken kann heute rückgeschlossen werden. Von der Änderung einer Verhaltensweise wird auf einen allgemeinen Zustand zurückgeschlossen, und das auf Grundlage der Analyse einer großen Datenmenge. Wenn ich mich aber anders verhalte als die Masse, kann das schnell ungerecht werden. Und auf dieser Analyse basierend, kann dann noch ganz anderes passieren, als dass mir angepasste Werbung eingespielt wird.
Ihne: Das ist ein interessanter Punkt, Herr Kelber, die Interpretierbarkeit von Daten. Entscheidend ist, was aus Datenmaterial gemacht wird. Wir beginnen ja erst zu verstehen, wie wir uns davor schützen können, dass Missbrauch mit unseren Identitäten betrieben wird.
Wie verändert die Digitalisierung unser Miteinander?
Kelber: Wir sollten uns vornehmen, unsere grundlegenden Werte in die digitale Welt zu übertragen – das hat Herr Ihne schon gesagt. Nicht diese Werte müssen sich anpassen, sondern die Geschäftsmodelle und Technologien an das Wertesystem. Wir sollten auch nicht akzeptieren, dass andere Weltregionen sich daran nicht halten. Man kann und muss Digitalisierung gestalten.
Ihne: Ich stimme dem zu und ergänze: Das persönliche Gespräch ist konstitutiv für Individuum und Gesellschaft. Digitalisierung kann dies stärken. Das ist positiv, denn Kommunikation ist ein Wesensmerkmal des Menschseins. Wenn Digitalisierung uns nichts nützen würde, hätten wir sie vermutlich nicht.
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