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Kommunikation und Marketing

Sally Rieß, Chemie mit Materialwissenschaften

Die „Allround-“Chemikerin weiß, was es heißt, an sich zu zweifeln. Doch sie entdeckte ihren Ehrgeiz – und nun ist sogar der Doktortitel in Chemie zum Greifen nahe.
sally_riess_foto.jpg / porträt

Pünktlich um 9:30 Uhr ist Sally Rieß am vereinbarten Treffpunkt in einem kleinen Lokal in Bonn für das Interview bei einer Tasse Kaffee. Unauffällig gekleidet und mit braunem Haar, das zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden ist, setzt sie sich vorsichtig auf einen der Stühle. Sie drückt ihre schwarze, kantige Brille gegen ihr Nasenbein und verschränkt die Hände auf ihrem Schoß. Mit zarter, ruhiger Stimme beginnt die 29-jährige zu erzählen, wie ihre Tante sie auf die Hochschule Bonn-Rhein-Sieg (H-BRS) und den Studiengang Chemie aufmerksam machte. Rieß konnte sich zu ihrer Schulzeit schon für das Fach begeistern, und per Zufall hatte ihre Tante in der Zeitung von der H-BRS gelesen. Ohne lange darüber nachzudenken, nahm Rieß den Rat an, sie startete ein Chemie-Studium am Campus in Rheinbach. Und so wirkte es zu Beginn des Gesprächs noch so, als sei sie eine sehr zurückhaltende junge Frau, die nach Orientierung sucht. Doch dieser Eindruck wird sich im Verlauf des Gesprächs komplett ändern.

Das Studium an der H-BRS gefiel Sally Rieß äußerst gut: die familiäre Atmosphäre, ansprechende Kurse, Dozenten, die sich um einen kümmern und den Stoff geduldig vermitteln. Doch als sie 2008 ihren Bachelor in Chemie mit Materialwissenschaften in der Tasche hatte, stand sie vor der Frage: „Wie ist dieser Abschluss nun einzuordnen?“ Das Bachelor-/Master-Prinzip war noch neu. Weder Studierende noch Firmen, aber auch nicht die Hochschulen wussten so recht, wie Bachelorabsolventen sich in den Mark einfügen würden. „Ich habe mich dann einfach für mehrere Stellen beworben, dazu aber auch an Universitäten für einen Master. Und dann bekam ich einigermaßen überraschend die Zusage von der renommierten RWTH Aachen.“

Das durfte sie sich nicht entgehen lassen. Doch das Leben an der Universität war auch eine „ganze andere Welt“. Nicht so, wie sie es von der H-BRS gewohnt gewesen war. Viel mehr Stoff, viel mehr Auswendiglernen. Außerdem alles recht anonym, keine familiäre Atmosphäre, auf die man sich ein bisschen stützen könnte. Und irgendwann stand sie tatsächlich an dem Punkt, an dem sie sich sagte: „Verdammt, das packe ich nicht“ Ich muss aufgeben.“

Aber Rieß fasste neuen Mut. Irgendwie wandelte sie den für sie neuen Gedanken ans mögliche Scheitern in Ehrgeiz, den Zweifel in positive Energie um – nicht zuletzt dank der Unterstützung zweier gleichgesinnter Kommilitonen. Sie büffelte umso mehr, teilweise bis in die Nacht. „Ich musste halt kämpfen“, so Rieß. Und der Kampf zahlte sich aus: 2011 hielt sie ihren Master of Science mit der Vertiefung Nanotechnologie und elektronische Materialien in den Händen.

Doch statt sich auf den Lorbeeren auszuruhen, stachelte sie der Erfolg an, nach noch Höherem zu streben: „Ich dachte: So jetzt habe ich die Uni gepackt, dann kann ich auch den Doktor“, erinnert sich Rieß. „Und jetzt sieht es so aus, dass ich den Doktor sogar mit Kind kann!“ Die 29-jährige hat inzwischen eine zweieinhalbjährige Tochter und steht vor dem Abschluss ihrer Promotion im Bereich Materialwissenschaften an der RWTH Aachen in Kooperation mit dem Forschungszentrum Jülich. Ihr Promotionsthema macht jeden Laien schwindelig: „Herstellung und Charakterisierung eines chalkogeniden Phasenwechselmaterialsystems mit Hilfe der Gasphasenabscheidung zur Anwendung in nichtflüchtigen portablen Speichermedien“. Einfacher gesagt: Sally Rieß hat ein Phasenwechselmaterial entwickelt, dass Energie speichern und kontrolliert abgeben kann und so den USB-Stick ersetzen könnte. „Das Material lässt sich durch Energiezufuhr zwischen einer amorphen und kristallinen Phase schalten. Im amorphen Zustand sind die Atome ungeordnet und durcheinander, was dazu führt, dass bei Kontaktierung der Strom nicht gut fließen kann (eine logische „0“), wohingegen im kristallinen Zustand die Atome geordnet sind und der Strom sehr gut fließt (eine logische „1“). Also letztendlich nicht anders als im Binärsystem der herkömmlichen Datenverarbeitung, in dem alle unsere Daten gespeichert werden.“ Die Doktorarbeit ist bereits abgegeben, nun wartet Rieß auf ihre Note. „Ach, das wird schon gut gehen“, sagt sie selbstsicher.

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Wie ihre Zukunft aussieht, ist noch offen. So speziell ihre Doktorarbeit klingt, die Materialwissenschaftlerin ist auf ihrem Gebiet eine „Allrounderin“, gefragt sind auf dem Markt allerdings häufiger Spezialisten, meint sie. Daher könnte es schwer werden, den passenden Job zu finden. Zumal viele Arbeitgeber jungen Müttern nicht zutrauen, Job und Familie unter einen Hut zu bekommen. „Also ich weiß, dass ich es kann“, sagt Rieß mit erhobenem Blick. Schließlich ist da noch ein Ehemann, der sie nach Kräften unterstützt. Vielleicht macht sie zunächst auch einfach mal ein halbes Jahr Pause. Wenigstens das, so Rieß, würden einem potentielle Arbeitgeber bei einer Bewerbung im Lebenslauf nachsehen. Ihr Ehrgeiz wird sie dann schon antreiben, das Passende zu finden.

Erst Wochen nach unserem Treffen erhielt Sally Rieß die Nachricht: eine Zusage von der thyssenkrupp Steel Europe AG in Duisburg. Im Februar beginnt sie dort als Ingenieurin für Werkstoffwissenschaften und arbeitet im Fachbereich Innovation und Technologie. Auch hier hat sich also mal wieder gezeigt: Von wegen orientierungslos!

Text: Esra Özdemir

Esra Özdemir studiert an unserer Hochschule Technikjournalismus. Sie verfasste dieses Porträt im Rahmen eines Wahlkurses (Porträtschreiben am Beispiel von H-BRS-Alumni) im Wintersemenster 2015/2016.